Die Tür zum Konferenzraum fliegt auf. Noch bevor er ganz im Raum ist, spürst du, wie sich die Atmosphäre verändert. Deine Schultern spannen sich an. Dein Atem wird flacher.
"Wer von Ihnen Genies", er lässt das Wort wie Gift von seiner Zunge tropfen, "kann mir erklären, warum die Quartalszahlen so aussehen?" Sein Blick wandert durch den Raum. Bleibt an dir hängen. "Sie waren doch so überzeugt von Ihrer Strategie?"
Du hattest die Strategie vorgeschlagen, ja. Nachdem er drei andere verworfen hatte. Nachdem er gesagt hatte: "Denken Sie endlich mal mit!" Aber das war vor drei Monaten. Vor Zeugen. Die jetzt alle auf ihre Unterlagen starren.
"Ich hatte Bedenken geäußert", sagst du. Ruhig. Sachlich.
Er lacht. Dieses Lachen, das du kennst. Das nichts mit Freude zu tun hat. "Bedenken? Sie haben mir diese Strategie verkauft, als wäre sie die Rettung der Firma. Und jetzt waren es plötzlich Bedenken?"
Die Wahrheit ist: Du hattest Bedenken. Schriftlich. Per Mail. Aber die Mail ist seltsam verschwunden aus dem Projektordner. Und er weiß, dass du es weißt. Und er weiß, dass du nichts beweisen kannst.
Nach dem Meeting gehst du zur Toilette. Schließt die Tür. Atmest. Deine Hände zittern leicht. Nicht vor Wut. Vor etwas anderem. Vor diesem Gefühl, verrückt zu werden. War es wirklich so? Oder bildest du dir das ein? Bist du zu empfindlich? Überreagierst du?
Willkommen in der Hölle eines narzisstischen Chefs. Wo Wahrheit verhandelbar ist. Wo Erfolge ihm gehören und Misserfolge dir. Wo du jeden Morgen nicht weißt, welche Version von ihm dich erwartet: Der Visionär, der dich lobt? Oder der Tyrann, der dich zermalmt?
In diesem Artikel erfährst du:
- Woran du erkennst, dass dein Chef nicht nur schwierig, sondern narzisstisch ist
- Warum er nach oben charmant und nach unten tyrannisch agiert
- Weshalb du anfängst, an deiner eigenen Wahrnehmung zu zweifeln
- Warum narzisstische Chefs trotzdem oft erfolgreich sind (und befördert werden)
- Was diese täglichen Psychospielchen mit deinem Nervensystem machen
- Wie du die "Spieleinladungen" erkennst und ablehnst - ohne deine Karriere zu ruinieren
Das Problem hat einen Namen - und du bist nicht verrückt
Du googelst nachts "toxischer Chef". "Gaslighting am Arbeitsplatz". "Bin ich zu empfindlich?" Die Suchanfragen werden immer verzweifelter. Immer privater. Im Inkognito-Modus, als könnte er sogar das sehen.
Tagsüber spielst du mit. Lächelst in Meetings. Nickst, wenn er seine Version der Realität präsentiert. Die Version, in der er der visionäre Leader ist und alle anderen zu dumm, seine Genialität zu verstehen.
Aber nachts liegst du wach. Gehst Gespräche durch. Was hast du falsch gemacht? Hättest du anders reagieren sollen? Bist du wirklich so unfähig, wie er andeutet? Andere kommen doch klar mit ihm. Oder?
Die Wahrheit: Andere liegen auch wach. Der Kollege, der letzte Woche "aus persönlichen Gründen" gekündigt hat? Der war nicht schwach. Der hat sich gerettet. Die Kollegin, die nur noch das Nötigste sagt? Die spielt nicht Team. Die schützt sich.
Was du erlebst, ist kein normaler schwieriger Chef. Kein fordernder Vorgesetzter. Kein Perfektionist mit hohen Standards.
Was du erlebst, ist psychologische Kriegsführung. Mit einem Menschen, der zwei Dinge braucht wie die Luft zum Atmen: Bewunderung und Macht. Und der bereit ist, dafür über Leichen zu gehen. Metaphorisch. Meistens.
Erkennungsmerkmale: So entlarvst du einen narzisstischen Chef
Es gibt schwierige Chefs. Die, die schlecht organisiert sind. Die, die cholerisch werden. Die, die konfliktscheu sind. Das ist anstrengend, aber normal. Und menschlich.
Ein narzisstischer Chef ist anders. Es geht nicht um Unfähigkeit oder Temperament. Es geht um ein System. Ein System der Kontrolle, der Manipulation, der Realitätsverzerrung. Und wenn du die Muster einmal siehst, kannst du sie nicht mehr übersehen.
Die folgende Liste soll dir einen ersten Überblick geben. Sie ist weder vollständig, noch muss ein narzisstischer Chef zwingend alle der folgenden Merkmale zeigen.
Menschen sind Individuen, das trifft auch auf Narzissten zu. Doch wenn dir beim Lesen der folgenden Anzeichen etwas verdächtig bekannt vorkommt, solltest du hellhörig werden.
Der grandiose Auftritt
Wenn er den Raum betritt, muss jeder es mitbekommen. Die Tür bleibt einen Moment länger offen als nötig. Die Stimme ist einen Tick zu laut. Der Gang einen Hauch zu bedeutungsschwer.
In Meetings unterbricht er. Nicht unhöflich - das wäre zu offensichtlich. Sondern mit diesem "Darf ich da kurz einhaken?" das kein Nein duldet. Und dann spricht er. Und spricht. Umformuliert deine Idee, bis sie seine wird. "Was ich glaube, was Sie eigentlich sagen wollten..."
Nach oben buckelt er, dass es quietscht. Der Geschäftsführer ist "visionär", der Vorstand "brillant". Aber nach unten? Da wird getreten. Emails um 23:47 Uhr: "Müssen wir morgen dringend besprechen." Der Betreff: "Enttäuschend."
Die zwei Gesichter
Vor Publikum ist er der Strahlemann. Der Motivator. "Mein großartiges Team", sagt er in der Präsentation. Legt dir die Hand auf die Schulter. Du willst dich wegducken, aber alle schauen. Also lächelst du.
Hinter verschlossenen Türen: "Wissen Sie eigentlich, wie peinlich das für mich war?" Welches 'das'? Du weißt es nicht. Er wird es dir nicht sagen. Du sollst raten. Dich winden. Dich entschuldigen für etwas, von dem du nicht mal weißt, was es ist.
Die Sekretärin hat aufgehört zu warnen. Früher sagte sie: "Er hat schlechte Laune." Jetzt nur noch dieser Blick. Dieser eine Blick, der sagt: Rette sich, wer kann.
Credit-Stealing als System
Deine Idee von letzter Woche? In der Vorstandspräsentation ist es seine. "Ich habe mir überlegt...", beginnt er. Du sitzt daneben. Sagst nichts. Was sollst du auch sagen?
Wenn etwas schiefgeht? "Mein Mitarbeiter hatte da einen Ansatz..." Die Distanzierung ist chirurgisch präzise. MEIN Mitarbeiter. Nicht WIR. Nicht das Team. Die Schuld hat eine Adresse, und es ist nicht seine.
Die Excel-Tabelle, an der du drei Nächte gesessen hast? Er leitet sie weiter. Ohne dich im CC. "Siehe Anhang - habe ich mal schnell zusammengestellt." Schnell. Mal eben. Als wäre es nichts.
Paranoide Kontrolle
Er will Zugriff auf alle Emails. Alle. "Für die Übersicht." Er sitzt in Meetings, zu denen er nicht eingeladen war. "Zufällig vorbeigekommen."
Einzelgespräche unter Kollegen? Gefährlich. "Worüber habt ihr gerade gesprochen?" Nicht interessiert. Misstrauisch. Als würdet ihr eine Verschwörung planen.
Die Urlaubsanträge liegen wochenlang auf seinem Tisch. Nicht vergessen - strategisch verzögert. Damit du spürst: Selbst deine freie Zeit gehört ihm.
Kritik-Allergie
Das erste Mal hast du es noch versucht. Im Jour Fixe, ganz sachlich: "Ich sehe da ein Problem mit dem Zeitplan..." Seine Gesichtsfarbe wechselte. Die Atmosphäre gefror. "Ein Problem? Interessant, dass ausgerechnet Sie das so sehen."
Ausgerechnet du. Der Satz hing tagelang über dir. Was meinte er? Die unterschwellige Drohung war klar: Wer Probleme sieht, wird selbst zum Problem.
Beim nächsten Mal warst du vorsichtiger. "Nur eine kleine Anmerkung..." Er lehnte sich zurück. Lächelte. Dieses Lächeln. "Ich bin immer offen für konstruktives Feedback." Dann zwei Stunden Monolog, warum deine Anmerkung von Unwissenheit zeugt. Von fehlendem Überblick. Von mangelnder Erfahrung.
Die anderen haben schneller gelernt. In Meetings nicken jetzt alle. "Brillante Idee!" bei jedem seiner Einfälle. Selbst bei den offensichtlich schlechten. Besonders bei den schlechten.
Die neue Kollegin hat es noch nicht verstanden. Sie meldet sich: "Haben wir das nicht letztes Jahr schon probiert? Es hat nicht..." Der Blick, den er ihr zuwirft. Die Stille im Raum. Nächste Woche ist sie ins andere Team versetzt. "Passte nicht ins Gefüge."
Eine Studie von Grijalva & Harms (2014) zeigt: Narzisstische Führungskräfte schaffen sich systematisch Echokammern. Je länger sie in Position sind, desto weniger ehrliches Feedback erhalten sie. Das Ergebnis: Ihre Entscheidungen werden nachweislich schlechter, während ihr Selbstbild immer grandioser wird. Ein Teufelskreis, den alle sehen - außer sie selbst.
Und so kreist er immer enger um sich selbst. Umgeben von Ja-Sagern. Abgeschirmt von Realität. Ein König ohne Kleider, dem keiner mehr sagt, dass er nackt ist.
Und du? Du hast gelernt: Kritik ist Karriere-Selbstmord. Also schweigst du. Wie alle anderen auch.
Gaslighting
"Das habe ich nie gesagt." Du weißt, dass er es gesagt hat. Gestern. Um 14:30. Im Meeting. Vor drei Zeugen. Aber er schaut dich an, als wärst du verrückt. Als würdest du dir Dinge einbilden.
"Sie interpretieren da was hinein", sagt er. Diese Ruhe in seiner Stimme. Als wäre er der Vernünftige und du die Hysterische. "Vielleicht sollten Sie mal Urlaub machen. Sie wirken... angespannt."
Die Zeugen von gestern? Schweigen heute. Gedächtnisverlust ist ansteckend in seiner Gegenwart. "Ich kann mich nicht erinnern", murmelt der Kollege. Die andere schaut weg.
Du fängst an, alles zu dokumentieren. Screenshots. Emails an dich selbst. Gedächtnisprotokolle nach jedem Meeting. Nicht für ihn - er würde es eh leugnen. Für dich. Um nicht verrückt zu werden.
Mehr dazu: Gaslighting: Perfide Manipulation, die dich an deiner eigenen Wahrnehmung zweifeln lässt
Emotionalen Achterbahnfahrten
Montag, 9 Uhr: "Großartige Arbeit!" Er strahlt. Lobt dich vor allen. Du bist verwirrt - gestern war er noch eisig. Aber okay, vielleicht wird alles gut.
Montag, 14 Uhr: "Ich bin enttäuscht." Wovon? Das Lob von heute morgen? Nie passiert. Du bildest dir das ein. Was stimmt nicht mit dir, dass du so undankbar bist?
Die Unberechenbarkeit ist die Folter. Du weißt nie, welche Version du kriegst. Den Charmeur? Den Tyrannen? Den Gleichgültigen? Dein Nervensystem ist im Dauer-Alarm. Jeder Schritt zu seinem Büro - russisches Roulette.
Er genießt das. Diese Macht. Zu sehen, wie du versuchst, seine Stimmung zu lesen. Wie du deine Worte wägst. Wie du kleiner wirst.
Isolations-Taktik
"Haben Sie bemerkt, dass Kollege X über Sie redet?" Beiläufig. Im Vorbeigehen. Ein Gift-Samen, gepflanzt.
"Kollegin Y hat sich beschwert." Worüber? "Das sollte unter uns bleiben." Jetzt misstraust du Y. Meidest sie. Sie weiß nicht warum.
Nach und nach sägt er die Verbindungen durch. Zwischen dir und den anderen. Zwischen den Kollegen untereinander. Divide et impera - teile und herrsche. Ein uraltes Prinzip.
Mittagspausen werden einsam. Keiner traut mehr keinem. Jeder könnte der Spitzel sein. Der, der alles an ihn weiterträgt. Also redet ihr nur noch über das Wetter. Über nichts. Die Einsamkeit macht euch schwach. Genau das will er.
Demütigungs-Rituale
"Können Sie uns nochmal erklären, warum das so lange dauert?" Vor versammelter Mannschaft. Du hast es schon dreimal erklärt. Er weiß das. Alle wissen das.
Aber darum geht es nicht. Es geht um die Show. Um deine Erniedrigung. Um die Demonstration seiner Macht. "Sprechen Sie lauter. Nicht jeder hat Ihre... Nuschel-Art."
Er unterbricht dich. Korrigiert deine Aussprache. Stellt Fragen, deren Antwort er kennt, nur um dich vorzuführen. "Interessant, dass Sie das nicht wissen."
Die anderen schauen weg. Erleichtert, dass sie nicht dran sind. Heute. Morgen vielleicht. Das Damoklesschwert schwebt über allen.
Strippenziehen aus dem Hintergrund
Du bekommst die Beförderung nicht. Wieder nicht. "Die Entscheidung kam von ganz oben", sagt er. Bedauernd. Fast väterlich. Was du nicht weißt: Er hat drei Wochen vorher beim Geschäftsführer Zweifel gesät. "Ist sie wirklich schon soweit? Ich mache mir Sorgen..."
Die Projekte, die plötzlich gestoppt werden? Deine Projekte. Immer deine. "Budgetentscheidung", sagt er. Aber das Budget für seinen Prestige-Unsinn? Das ist immer da.
Er spielt Schach, während du Dame spielst. Du denkst, ihr arbeitet zusammen. Er denkt drei Züge voraus, wie er dich loswird. Oder kleinhalten kann. Oder als Sündenbock positioniert.
Die neue Kollegin, die so seltsam zu dir ist? Er hat ihr am ersten Tag erzählt, dass du dich über ihre Einstellung beschwert hättest. "Nur, damit Sie Bescheid wissen." Die Spannung zwischen euch? Sein Werk.
Der Kunde, der plötzlich nur noch mit ihm reden will? "Sie waren wohl etwas zu forsch", sagt er. Was er dem Kunden erzählt hat? "Manchmal übereifrig, aber ich arbeite dran." Dein Ruf? Kollateralschaden.
Die dunkle Triade - Narzissmus, Psychopathie und Machiavellismus - findet sich überproportional oft in Führungspositionen. Während der Narzisst die Bewunderung braucht, ist der Machiavellist der kalte Stratege im Hintergrund. Viele narzisstische Chefs haben auch machiavellistische Züge: Sie manipulieren nicht aus Emotion, sondern aus Kalkül. Mehr dazu: Dunkle Triade: Warum manche Menschen skrupellos sind – und was das für uns anderen bedeutet
Verdeckte Sabotage
Wichtige Informationen kommen zu spät bei dir an. "Ach, habe ich Ihnen das nicht weitergeleitet?" Unschuldsmine. Die Deadline ist morgen. Du arbeitest die Nacht durch.
Im Meeting erwähnt er beiläufig: "Wie besprochen..." Besprochen? Wann? Nie. Aber alle nicken. Du stehst als die Vergessliche da. Als die, die nicht zuhört.
Deine Email an alle mit dem neuen Prozess? Er antwortet allen: "Interessanter Ansatz, aber wir sollten erst..." Deine Autorität? Untergraben. Deine Initiative? Abgewürgt. Alles mit einem Lächeln.
Er cc't plötzlich die Geschäftsführung. Bei deinen Fehlern. Nie bei deinen Erfolgen. Der Betreff harmlos, der Inhalt vernichtend. "Nur zur Info." Die Bombe ist gezündet.
Warum gibt es so viele Narzissten in Führungspositionen? Wie das System sie nach oben spült.
Die bittere Wahrheit: Dein narzisstischer Chef ist kein Betriebsunfall. Er ist das logische Ergebnis eines Systems, das genau seine Eigenschaften belohnt.
Er kann sich verkaufen. In Bewerbungsgesprächen strotzt er vor Selbstbewusstsein. "Meine größte Schwäche? Ich bin Perfektionist." Die Führungsetage nickt beeindruckt. So viel Selbstreflexion!
Er scheut keine Konflikte. Während andere zögern, prescht er vor. Übernimmt Projekte. Macht Versprechungen. Dass er die Arbeit später an euch delegiert? Dass die Versprechungen unrealistisch waren? Das sieht von oben keiner.
Er hat keine Skrupel. Die Kollegin, die eigentlich befördert werden sollte? Er hat subtil Zweifel gestreut. "Ist sie wirklich schon soweit?" Der Kollege mit der besseren Idee? "Interessanter Ansatz, aber ich sehe da Risiken..." Nur er bleibt übrig. Der strahlende Sieger.
Babiak, Neumann & Hare (2010) untersuchten 203 Manager und fanden: Die Psychopathie-Rate in Führungspositionen liegt bei 3,9% - fast viermal höher als in der Gesamtbevölkerung. Je höher die Position, desto häufiger finden sich narzisstische und psychopathische Züge. Die Eigenschaften, die sie nach oben bringen - Charme, Risikobereitschaft, Durchsetzungsstärke - sind dieselben, die ihre Teams zerstören.
Dominanz vs. Führungsstärke: der weit verbreitete Irrtum
Unternehmen verwechseln Dominanz häufig mit Führungsstärke. Selbstüberschätzung mit Vision. Rücksichtslosigkeit mit Entscheidungsfreude.
Der narzisstische Chef im Assessment-Center? Brilliert. Er ist der, der die Gruppe führt. Der klare Ansagen macht. Der keine Selbstzweifel zeigt. Die stillen, kompetenten Kandidaten? Werden übersehen. "Zu wenig Leadership-Qualitäten."
Erst später, wenn die Kündigungen sich häufen. Wenn die besten Leute gehen. Wenn die Krankmeldungen steigen. Erst dann dämmert es manchmal. Aber da hat er längst die nächste Beförderung.
Weil er nach oben so gut aussieht. Weil die Zahlen - kurzfristig - stimmen. Weil er die Lorbeeren für eure Arbeit erntet.
Die drei Masken der Macht
Nicht jeder narzisstische Chef trägt dieselbe Maske. Aber wenn du weißt, welchen Typ du vor dir hast, kannst du sein nächsten Zug vorhersehen. Das macht es nicht leichter. Aber berechenbarer.
Der grandiose Visionär
Er ist wie Steve Jobs. Zumindest in seinem Kopf. Jede Email beginnt mit "Ich hatte eine bahnbrechende Idee..." Jedes Meeting wird zur TED-Talk-Bühne.
"Wir werden den Markt revolutionieren", sagt er. Ihr arbeitet in der Buchhaltung einer mittelständischen Firma. Aber egal. In seinem Film ist er der misverstandene Genius, umgeben von Kleingeistern, die seine Vision nicht sehen.
Er spricht in Superlativen. Alles ist "game-changing", "disruptive", "next level". Die normalen Worte reichen nicht für seine Großartigkeit. Wenn du nach konkreten Schritten fragst? "Details sind was für Ausführende." Du bist ausführend. Die Botschaft ist klar.
Seine Bürowand ist ein Schrein. Artikel, in denen er erwähnt wird - auch wenn es nur eine Zeile ist. Fotos mit wichtigen Menschen - auch wenn sie ihn nicht kennen. Zertifikate von Online-Kursen, die aussehen wie Harvard-Diplome.
Scheitert eine seiner Ideen, war die Zeit nicht reif. Das Team nicht gut genug. Der Markt nicht bereit. Aber niemals, niemals lag es an ihm.
Der paranoide Kontrolleur
Dieser Typ vertraut niemandem. Jede Entscheidung muss über seinen Tisch. Jede Email im CC. Jeder Schritt dokumentiert.
"Nur zur Sicherheit", sagt er. Aber Sicherheit wovor? Vor dem Kontrollverlust. Vor der Angst, dass jemand merkt: Er hat keine Ahnung, was ihr eigentlich macht. Die Details eurer Arbeit überfordern ihn. Also kontrolliert er das Drumherum. Die Anwesenheit. Die Protokolle. Die Hierarchie.
Er installiert Überwachungssoftware. "Für die Produktivität." Er checkt die Zeitstempel eurer Emails. "Interessant, dass Sie erst um 9:03 die erste Mail verschickt haben." Er zählt die Minuten eurer Kaffeepausen.
In seinem Weltbild plant ihr ständig den Aufstand. Redet hinter seinem Rücken. Sabotiert seine Autorität. Dass ihr einfach nur eure Arbeit machen wollt? Unvorstellbar. Es muss eine Agenda geben.
Die Ironie: Seine Paranoia erschafft genau das, was er fürchtet. Irgendwann redet ihr tatsächlich über ihn. Plant tatsächlich - eure Flucht.
Der vulnerable Märtyrer-Chef
Dieser Typ ist der gefährlichste. Weil er nicht aussieht wie ein Tyrann. Er sieht aus wie ein Opfer.
"Mir fällt das auch nicht leicht", sagt er, bevor er dir unmögliche Deadlines aufdrückt. "Aber was soll ich machen? Der Vorstand..." Er ist immer das Opfer der Umstände. Nie der Täter.
Wenn du scheiterst - und du wirst scheitern, die Deadline war unmöglich - dann hast du IHN im Stich gelassen. "Ich habe mich so für Sie eingesetzt. Und jetzt stehe ich dumm da." Die Schuld klebt an dir wie Teer.
Er erzählt von seinen Problemen. Seinem Stress. Seiner Aufopferung. Bis du dich schuldig fühlst, überhaupt Feierabend zu machen. "Ich werde wohl wieder bis Mitternacht..." Der Seufzer. Der Blick. Du bleibst länger. Aus Mitleid. Aus Schuld.
Seine Waffe ist nicht die Wut. Es sind die Tränen. Die Enttäuschung. Das "Ich dachte, ich kann auf Sie zählen." Du fühlst dich wie das Monster, wenn du Grenzen setzt. Wie der Undankbare, wenn du kündigst.
Übung: Erkenne die Spieleinladung - und verzichte
Jeden Tag lädt dich dein Chef zu einem Spiel ein. Einem Psychospielchen, bei dem du nur verlieren kannst. Die Kunst ist nicht, besser zu spielen. Die Kunst ist, nicht mitzuspielen.
So erkennst du die Einladung
"Können Sie mir mal erklären, warum..." - Das ist keine Frage. Es ist eine Falle. Er will keine Erklärung. Er will dich in die Defensive drängen.
"Interessant, dass Sie..." - Der Satz endet nie gut. Was folgt, ist ein Angriff in Geschenkpapier.
"Andere Mitarbeiter schaffen das ja auch..." - Der Vergleich. Die Scham. Der Köder, dass du dich rechtfertigst, dich klein machst.
"Ich bin ja nur enttäuscht, weil ich so viel von Ihnen halte..." - Die emotionale Erpressung. Du sollst dich schuldig fühlen. Ihm beweisen, dass du es wert bist.
Das sind alles Spieleinladungen. Er wirft den Ball. Wartet, dass du ihn aufnimmst. Dass du mitspielst. Dich verteidigst. Erklärst. Rechtfertigst.
So lehnst du sie ab
Wenn er seine Spieleinladung ausspricht, machst du folgendes:
Pause. Einen Atemzug lang. Nicht hastig. Ruhig. Diese Sekunde gehört dir.
Bodenkontakt. Spüre deine Füße fest auf dem Boden. Das erdet dich. Holt dich aus der Panik.
Neutrale Antwort. Keine Rechtfertigung. Keine Erklärung. Keine Emotion.
- "Ich schaue mir das an."
- "Okay, verstanden."
- "Ich nehme das zur Kenntnis."
- "Daran arbeite ich."
Punkt. Kein "aber". Kein "weil". Kein "es ist nur so, dass". Die Antwort ist komplett.
Er wird nachhaken. "Das ist alles?" Oder provozieren. "Diese Gleichgültigkeit ist genau das Problem!"
Du bleibst bei deinem Skript. "Wie gesagt, ich schaue es mir an." Wiederhole. Variiere nicht. Werde nicht kreativ. Das verwirrt ihn. Er braucht deine Emotion. Deine Rechtfertigung. Ohne sie verpufft sein Spiel.
Warum es trotzdem eine Herausforderung bleibt
Diese Technik funktioniert. Äußerlich. Du wirkst ruhig. Souverän sogar. Er findet keinen Ansatzpunkt.
Aber innerlich? Da rast dein System. Dein Herz hämmert. Die Hände werden feucht. Der Magen verkrampft. Dein Körper schreit: GEFAHR! VERTEIDIGE DICH! ERKLÄRE! TU WAS!
Und du? Du zwingst dich zur Ruhe. Mit Willenskraft. Jeden Tag. Bei jeder Einladung. Das ist wie Autofahren mit angezogener Handbremse. Es geht. Eine Weile. Aber der Verschleiß ist enorm.
Nach drei Monaten bist du erschöpft. Nach sechs Monaten ausgebrannt. Nach einem Jahr? Entweder weg oder krank. Weil Willenskraft gegen ein Nervensystem auf Dauer immer verliert.
Das ist die bittere Wahrheit: Die Technik hilft dir zu überleben. Aber leben? Wirklich leben? Das ist was anderes.
Neurologie: Was in deinem Körper abläuft
Du denkst, es ist nur ein schwieriger Job. Nur ein anstrengender Chef. Nur eine Phase, die vorbeigeht. Aber dein Körper führt jeden Tag Krieg.
Wenn du morgens ins Büro kommst, scannt dein System: Welche Laune hat er? Die geschlossene Bürotür - gutes oder schlechtes Zeichen? Sein Auto auf dem Parkplatz - Flucht noch möglich oder zu spät?
Dein Nervensystem kennt keinen Unterschied zwischen einem Säbelzahntiger und einem narzisstischen Chef. Die Bedrohung ist real. Die Gefahr ist da. Also flutet es dich mit Stresshormonen. Cortisol. Adrenalin. Den ganzen Tag. Jeden Tag.
Reiz → Verarbeitung → Reaktion
Der Reiz: Seine Schritte auf dem Flur. Die Email-Benachrichtigung mit seinem Namen. Der Kalendereintrag: "Kurzes Meeting - ASAP"
Die Verarbeitung: Dein Gehirn schreit: BEDROHUNG! In Millisekunden werden alte Muster aktiviert. Kämpfen? Zu gefährlich. Fliehen? Geht nicht. Also Erstarren. Kleiner werden. Unsichtbar werden.
Die Reaktion: Du nickst. Lächelst. Sagst "Kein Problem." Während innerlich alles schreit. Während dein Körper sich aufbäumt gegen das, was du ihm antust.
Diese Diskrepanz - außen ruhig, innen Chaos - die macht dich krank. Nicht metaphorisch. Buchstäblich. Kopfschmerzen. Schlafstörungen. Magen-Darm. Der Klassiker. Dein Körper schickt SOS. Aber du machst weiter. Musst ja.
Hypevigilanz: chronische Wachsamkeit, die dich von innen auffrisst
Du entwickelst Superkräfte. Kannst seine Stimmung an der Art lesen, wie er die Tür schließt. Weißt am Gang, ob Gefahr droht. Hörst am Tonfall seiner Sekretärin, was kommt.
Diese Hypervigilanz rettet dich täglich. Aber sie verzehrt dich auch. Du kannst nicht mehr abschalten. Auch zu Hause nicht. Das Gedankenkarussell dreht sich weiter. Was meinte er heute? Was erwartet mich morgen?
Dein Partner fragt: "Was ist los?" Du sagst: "Nur der Job." Aber es ist nicht nur der Job. Es ist die Besetzung deines Nervensystems. Die feindliche Übernahme deiner Gedanken.
Der Preis, den du zahlst (ohne es sofort zu merken)
Die Schlafstörungen kommen schleichend. Erst wachst du um 3 Uhr auf. Dann um 2. Dann schläfst du gar nicht mehr richtig. Dein Gehirn bleibt in Alarmbereitschaft. Könnte ja eine Mail kommen.
Der Sonntag wird zur Qual. Nicht weil Montag kommt. Sondern weil du den Sonntag damit verbringst, an Montag zu denken. Die freie Zeit ist nicht mehr frei. Sie ist Wartezimmer für den nächsten Kampf.
Deine Beziehungen leiden. "Du bist nicht mehr du selbst", sagt dein Partner. Aber wer bist du denn? Der Mensch, der du mal warst? Der existiert nur noch in Fragmenten. Zwischen den Meetings. Nach dem dritten Glas Wein. Im Urlaub. Für drei Tage. Dann holt dich die Angst wieder ein.
Die Forschung ist eindeutig: Chronischer Stress durch toxische Führung erhöht das Risiko für Herzinfarkt um 23%, für Depression um 300% (Nyberg et al., 2009). Dein Körper führt Protokoll. Auch wenn dein Kopf sagt: "Ich schaffe das."
Was du verstehen musst
Er wird sich nicht ändern.
Diese Hoffnung - dass er irgendwann merkt, was er anrichtet. Dass die Geschäftsführung eingreift. Dass es besser wird. Sie hält dich gefangen. Lässt dich ausharren. Noch ein Quartal. Noch ein Jahr. Noch ein bisschen.
Aber narzisstische Chefs ändern sich nicht. Sie werden befördert. Oder sie bleiben. Aber sie werden nicht plötzlich menschlich. Das System, das sie nach oben gespült hat, hält sie dort. Schützt sie. Füttert sie mit neuen Opfern. Mit dir.
Die einzige Variable, die du kontrollierst, bist du. Bleibst du? Gehst du? Und wenn du bleibst - wie lange noch? Bis zum Burnout? Bis zur Depression? Bis dein Körper die Notbremse zieht?
3 Wege im Umgang mit einem narzisstischen Chef
Du hast drei Optionen. Nur drei. Alles andere ist Selbstbetrug.
Option 1: Bleiben und nichts ändern
Du machst weiter wie bisher. Hoffst. Erträgst. Zerfällst Stück für Stück. Bis du im Fahrstuhl merkst: Du hältst automatisch die Luft an. Seit Monaten. Als könntest du dich unsichtbar atmen.
Bis deine Tochter fragt: "Papa, warum bist du immer so traurig?" Und du weißt: Sie hat recht.
Bis der Arzt sagt: "Ihre Werte... wir müssen reden." Und du genau weißt, woher sie kommen.
Dieser Weg endet immer gleich. In Krankheit. In Erschöpfung. Im Verlust dessen, was du mal warst.
Option 2: Gehen
Du kündigst. Suchst was Neues. Flüchtest. Das kann die Rettung sein. Oft ist es das. Ich wünsche es dir. Aber manchmal? Vorhang auf: der nächste narzisstische Chef. Andere Firma, gleiches Spiel.
Und du hast nichts gelernt außer wegzurennen. Das Muster in dir - die Programmierung, die dich zur perfekten Beute macht - die nimmst du mit. Ins nächste Büro. In die nächste Hölle.
Option 3: Bleiben oder gehen - vor allem aber wachsen
Du lernst, dein Nervensystem zu beruhigen. Nicht mit Willenskraft - das hast du versucht, es erschöpft dich. Sondern von innen. An der Wurzel. Da, wo die automatischen Reaktionen sitzen.
Du trainierst dein System um. Von "Gefahr! Alarm! Kampf!" zu "Interessant. Sein Problem. Nicht meins." Nicht nur im Kopf. Im Körper. In den Reflexen. In der Tiefe.
Self-Leadership in schwierigen Beziehungen. Die Fähigkeit, souverän zu bleiben, selbst wenn andere toben. Gelassen, wenn andere eskalieren. Klar, wenn andere manipulieren.
Mit dieser Fähigkeit kannst du dann wirklich entscheiden: Bleibe ich? Gehe ich? Aber nicht aus Panik. Nicht aus Verzweiflung. Sondern aus Klarheit. Aus Stärke. Aus freier Wahl.
Und falls Gefahr in Verzug ist - wenn deine Gesundheit akut leidet, wenn du am Ende bist - dann geh. Sofort. Rette dich. Aber wenn du noch etwas Zeit hast? Dann nutze sie. Lerne die wichtigste Fähigkeit unserer Zeit: Mit schwierigen Menschen umzugehen, ohne dich selbst zu verlieren.
Was bleibt, wenn die Illusion fällt
Irgendwann hörst du auf zu kämpfen. Nicht dramatisch. Einfach so. Du sitzt im Meeting, er macht seine Show, aber der Zauber wirkt nicht mehr. Du siehst den Trick.
Es ging nie um dich. Du warst nur die Leinwand für seine Projektionen. Diese Erkenntnis tut weh. Aber sie macht frei.
Stell dir vor: Du wachst auf ohne den Stein auf der Brust. Gehst zur Arbeit. Sein Gift prallt ab. Nicht aus Willenskraft - aus einer neuen Programmierung.
Er sagt "Enttäuschend". Du denkst: "Seine Meinung." Er eskaliert. Dein Puls bleibt ruhig. Das ist Self-Leadership. So souverän in dir ruhen, dass sein Chaos dich nicht erreicht.
Von diesem Ort der Freiheit triffst du die richtige Entscheidung. Bleiben oder gehen. Nicht aus Panik. Aus Klarheit. Mit der Gewissheit: Egal wo du hingehst - du nimmst das Wichtigste mit. Dich selbst. Unverletzt. Ungebrochen. Souverän - und bereit für alles, was kommt und deinen Weg kreuzt.
Klare Grenzen, Innere Ruhe.
Das Coaching-Programm.
Tiefer eintauchen
Hier findest du wertvolle Ressourcen, wenn du Narzissmus und die angrenzenden Themen noch besser verstehen möchtest:
Narzissmus einfach erklärt: Die wichtigsten Begriffe & Zusammenhänge
Narzissmus-Typen: Ein Krankheitsbild – viele Gesichter
Maligner Narzissmus: Die dunkelste Seite des Narzissmus & wie du sie rechtzeitig erkennst
Toxische Männlichkeit: Was dahintersteckt und wie der Begriff selbst zum Problem wurde