Mythos von Narziss und Echo

Mythos von Narziss und Echo

Die Zusammenhänge zwischen Narzissmus und Partnerschaft werden schon im alten Narziss-Mythos deutlich. Er wird in vielen Versionen erzählt, die sich alle um denselben Kern drehen, jedoch in einigen Details voneinander abweichen.

Wenn man sich die psychologischen Eigenschaften der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung, wie wir sie heute verstehen, bewusst macht, wird schnell die Weisheit und präzise Beobachtungsgabe der alten Dichter deutlich, die sich in dem Mythos niederschlägt.

Narziss ist das Ergebnis einer Vergewaltigung, die der Flussgott Kephissos an der Wassernymphe Leirope begeht.

Von Anfang an ist Narziss von außergewöhnlicher Schönheit und schart ungezählte Verehrer und Verehrerinnen um sich, die alle um ihn werben.

Doch für Narziss ist niemand gut genug. Egal, wer sich ihm anbietet, sie alle werden barsch von ihm zurückgewiesen.

Für dieses Verhalten wird er von der Göttin Nemesis mit unstillbarer Selbstliebe (präziser wäre: Selbstsucht) gestraft. Da er ohnehin unfähig war, jemand anderen zu lieben, sollte er fortan vor Verlangen nach sich selbst vergehen.

Die Schmach der Zurückweisung wurde auch der Bergnymphe Echo zuteil, die sich unter anderem dadurch auszeichnete, dass sie nicht mehr eigenständig sprechen sondern lediglich wiederholen konnte, was andere sagten.

Diese Strafe erhielt sie von der Göttin Hera dafür, dass sie diese im Auftrag ihres Gatten Zeus mit Geschichten ablenkte, um diesem Zeit zu verschaffen, sich auf der Erde seinen sexuellen Ausschweifungen hinzugeben und seine Frau Hera zu betrügen.

Als Narziss sich eines Tages müde von der Jagd an einem Weiher niederlässt, um zu trinken, erblickt er im Wasser sein Spiegelbild und verfällt ihm. Tag und Nacht verbringt er von nun an damit, sein Spiegelbild auf der Oberfläche zu lieben und verfällt in tiefe Trauer darüber, dass der Geliebte im Wasser nicht antwortet. Er ertrinkt bei dem Versuch, sein Spiegelbild zu umarmen. Dort, wo er einst saß, wächst seither eine wunderschöne Narzisse.

Besonders interessant ist dabei, dass Narziss nicht sich selbst liebt sondern sein Spiegelbild, also das Bild, das er von sich selbst hat. Er ist unfähig, eine Verbindung zwischen sich und seinem Bild herzustellen. So ist auch der Narzisst nicht verliebt in sich selbst sondern er ist süchtig nach dem falschen und überhöhten Bild von sich selbst, das er sich macht und auf das er reagiert.

Geschichte des Narziss in der Version von Oscar Wilde

Besonders gut gefällt mir die Version der Geschichte des Narziss von Oscar Wilde. Er verstand es wie kaum ein anderer, seinen Geschichten eine unerwartete Wendung zu geben und sie aus bisher unbeachteten Blickwinkeln zu betrachten. So auch hier. Darüber hinaus greift seine Version besser als jede andere das für den Narzissmus so typische Spiegel-Thema auf und deutet an, dass narzisstische Anteile in jedem von uns vorhanden sind.

Auszug der Geschichte des Narziss von Oscar Wilde

Als Narziß starb, verwandelte sich die Quelle seiner Freuden von einer Schale voll süßen Wassers in eine Schale voll salziger Tränen, und die Bergnymphen kamen weinend durch den Wald, dass sie zur Quelle singen und dieser Trost geben konnten. 

Und als sie sahen, daß die Quelle von einer Schale voll süßen Wassers sich in eine Schale voll salzige Tränen verwandelt hatte, da lösten sie die grünen Flechten ihres Haares und sprachen weinend zur Quelle: "Wir wundern uns nicht, das du auf diese Weise um Narziss trauerst, so schön war er."

"War Narziß denn schön?" fragte die Quelle.

"Wer sollte das besser wissen als du?" antworteten die Bergnymphen. "An uns ging er immer vorbei, dich aber suchte er auf und lag an deinen Ufern und sah auf dich hinab, und im Spiegel deiner Wasser spiegelte er seine eigene Schönheit."

Und die Quelle antwortete: "Aber ich liebte Narziß, weil, wie er an meinem Ufer lag und auf mich niederblickte, ich im Spiegel seiner Augen stets meine eigene Schönheit sah."

Veröffentlicht: Mai 2, 2021

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