Stufen sozialer Entfremdung: Wenn wir aus dem Kontakt gehen

  • andreas-gauger
  • /
  • Stufen sozialer Entfremdung: Wenn wir aus dem Kontakt gehen
Soziale Entfremdung

Was macht eine gesunde Beziehung aus? Vertrauen? Tiefgehende Gespräche? Gleiche Werte? Ähnliche Ziele?

All das ist wichtig, doch es nützt wenig, wenn uns aufgrund unserer Verletzungsgeschichte die Fähigkeit fehlt, mit anderen Menschen auf vertrauensvolle und tragfähige Weise in Beziehung zu treten und zu bleiben.

Das ist nämlich mit einem Beziehungsrisiko verbunden und das scheuen wir oft, wenn wichtige Beziehungsbedürfnisse in unserer Kindheit nicht ausreichend erfüllt waren. Dann müssen wir Wege finden, das Beziehungsrisiko zu reduzieren, wenn wir mit anderen Menschen in Kontakt sind.

Wir entwickeln unbewusste Schutzstrategien und Schonhaltungen, um die mögliche Fallhöhe zu begrenzen, sollten wir wieder durch andere verletzt werden. Sie reduzieren unsere Beziehungsangst, verhindern jedoch auch, dass unsere Beziehungen über eine gewisse Tiefe hinaus führen. Wir deckeln das, was möglich wäre aus Angst, wieder verletzt zu werden.

Zu diesen Schutzstrategien zählt die soziale Entfremdung. Sie hat mehrere Stadien. Auch wenn du selbst nicht davon betroffen sein solltest (was ich dir sehr wünsche) so gibt es mit einiger Wahrscheinlichkeit Menschen im Umfeld, die es sind.

Wenn du soziale Entfremdung verstehst und bei einem Menschen der dir wichtig ist erkennst, kannst du durch dein Verhalten heilsame Beziehungsangebote machen.

Gesund: Die Ich-Du-Beziehung

In einer gesunden Ich-Du-Beziehung sind wir in der Lage, unsere Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen in Beziehung zum anderen zu bringen. Wir können Sätze sagen, wie: „Ich wünsche mir von dir; ich brauche von dir; bitte nimm‘ mich mal in den Arm; ich bin für dich da, hör‘ mir mal zu, …“ ohne dabei Angst zu bekommen, aus der Bindung zu fallen.

Eine gesunde Ich-Du-Beziehung ist geprägt von gegenseitiger Anteilnahme und Anteilgabe. Sie hält Spannungen aus, weil beide wissen, dass die Beziehung von einer grundsätzlichen Zugewandtheit beider getragen wird. Diese grundsätzliche Zugewandtheit bleibt auch dann bestehen, wenn man sich mal in der Sache uneins ist.

In einer gesunden Ich-Du-Beziehung kann ich mir erlauben, mich dem anderen „zuzumuten“ wie ich bin. Ich-Du-Beziehungen werden bestimmt durch ein hohes Maß an Empathie. Beide Partner reifen und entwickeln sich aneinander.

Die grundsätzliche Bewegungsrichtung in einer gesunden Ich-Du-Beziehung ist auf den anderen zu. Gemeinsame Probleme werden auch gemeinsam gelöst.

Alte Verletzungen und das Beziehungsrisiko

So rosig sieht’s leider nicht für jeden aus. Wir alle haben eine persönliche Verletzungsgeschichte. Konnten wir durch Bindungsstörungen in prägenden Beziehungen kein funktionierendes Modell der Beziehungsgestaltung verinnerlichen, und tragen wir die Narben alter Bindungstraumata in uns und haben Angst, erneut ein Beziehungsrisiko einzugehen.

Wir entwickeln unter Umständen ein ausgeprägtes Nähe-Distanz-Problem und stecken fest im ambivalenten Bedürfnis nach Intimität auf der einen und der Angst vor der damit einhergehenden emotionalen Gefahr auf der anderen Seite.

Dann lassen wir uns nur bis zu einem gewissen Punkt auf einen anderen Menschen ein. Wir frieren unsere Hin-zu-Bewegung zum Partner auf halber Strecke ein, oder gestalten die Beziehung von vornherein so, dass keine echte Begegnung möglich ist.

Stufen sozialer Entfremdung

Die soziale Entfremdung ist übrigens das Beziehungspendant zur emotionalen Entfremdung, die du das letzte Mal schon kennengelernt hast.

Je mehr Beziehungsverletzungen wir mit den Jahren angesammelt haben, desto dicker werden unsere Schutzmauern. Wir alle sind emotional Überlebende.

Unsere emotionalen Schonhaltungen haben wir uns irgendwann mal aus gutem Grund zugelegt. Heute sitzen sie jedoch wie ein undurchlässiger Filter vor unseren Herzen. Sie hindern uns daran, neue positive Beziehungserfahrungen zu machen.

1. Ich-Es-Beziehung

Die erste Stufe emotionaler Entfremdung ist die Ich-Es-Beziehung. Hier versuchen wir, Emotionen zu verdinglichen, anstatt sie direkt zu benennen. Wir sprechen nicht darüber, wie wir uns fühlen sondern über „die Sache an sich“.

Beispiel: „Verlustangst ist ein wichtiges Thema. Das verstehe ich. Neulich habe ich dazu was von Dr. Soundso gelesen. War interessant. Ich muss da nochmal etwas tiefer einsteigen. Du könntest Recht haben. Ich denke mal drüber nach.“ anstatt "Ich habe Angst, dass du mich verlässt."

Die Primäre Angst, die durch die Ich-Es-Beziehung abgewehrt wird, ist die Angst vor zu starken Gefühlen und dem damit einhergehenden emotionalen Kontrollverlust. Sie kommt besonders bei Menschen vor, die in der Kindheit mit der Bewältigung stark negativer Gefühle allein gelassen wurden und nicht wussten, wie sie damit umgehen sollen.

2. Ich-Ich-Beziehung

Bei einer Ich-Ich-Beziehung beziehen wir unser Gegenüber nicht mehr in die Beziehung ein. Wir glauben, alles alleine regeln zu müssen. Wir machen keine echten Beziehungsangebote mehr und nehmen auch keine an. Was eigentlich den anderen meint und in Beziehung gehört, fliegt bei der Ich-Ich-Beziehung immer wie ein Bumerang zu mir zurück, bevor es überhaupt in die Nähe des anderen kommt.

Beispiel: „Ich weiß schon. Ich muss an meiner Eifersucht arbeiten. Dabei kannst du mir nicht helfen. Ich muss es alleine schaffen. Ich weiß, du denkst, ich bin zu eifersüchtig und das ist wirklich ein Problem.“

Die Ich-Ich-Beziehung kommt vor allem bei Menschen vor, die in ihrer Kindheit emotional missbraucht wurden. Meist wurde ihr Beziehungsbedürfnis nach Sicherheit grundlegend verletzt, indem ihnen immer wieder suggeriert wurde, wenn sie sich nicht wie erwünscht verhalten, werden sie nicht mehr geliebt. Die primäre Angst, die durch die Ich-Ich-Beziehung abgewehrt werden soll ist die Angst, erneut emotional missbraucht zu werden und aus der Bindung zu fallen.

Hier kannst du dir die zugehörige Podcast-Folge über unser Sicherheitsbedürfnis in Beziehungen anhören:

3. Pesudo-Beziehung

Die Pseudo-Beziehung ist die gravierendste Stufe der sozialen Entfremdung. Die Betroffenen verhalten sich oft rebellisch und hoch manipulativ. Sie lassen sich auf keine echte Beziehung ein und haben häufig Spaß daran, andere zum Narren halten.

Anders als es oberflächlich wirkt, ist die Not hier am größten. Doch wird sie selten wirklich wahrgenommen. Hängt jemand auf dieser Stufe fest, hat er oft gravierende Störungen in den Ursprungsbeziehungen seiner Kindheit erlebt.

Das Gegenüber wird hier nur scheinbar angesprochen. In Wirklichkeit wird der andere eher instrumentalisiert und manipuliert. Wenn Du dabei jetzt irgendwie an narzisstische Beziehungen denken musst, liegst du gar nicht so falsch. Das ist die Art, wie toxische Narzissten Beziehungen gestalten.

Motto: „Du bist mir nicht wirklich wichtig. Du interessierst mich nur so viel, wie du mir von Nutzen sein kannst.“

Primäre Angst: Erneut in dysfunktionale Beziehungen zu geraten.

Rücknahme der sozialen Entfremdung

Auch wenn unsere Ursprungsbeziehungen nicht optimal verlaufen sind, so bleiben wir dich ein Leben lang lernfähig. Heutige Beziehungserfahrungen können sich korrigierend gegen alte verletzende Erlebnisse stellen. Zumindest gilt das für die ersten beiden Stufen der sozialen Entfremdung.

Um hier heilsam einzuwirken, ist es nötig, die Beziehung zum Betroffenen genau entgegengesetzt zur ursprünglich verletzenden Beziehungserfahrung zu gestalten. Die Hintergründe beruhen auf dem Prinzip der „antithetischen Beziehungsgestaltung“.

Frei nach dem Hegel’schen Dreischritt aus:

  1. These
  2. Antithese
  3. Synthese

In der Praxis erfordert das zugegeben ein gerütteltes Maß an Einfühlungsvermögen, Geduld, Ausgeglichenheit, Widmung, Wertschätzung, Bereitschaft und Fähigkeit. Die Liste ließe sich noch fortsetzen.

Ich will ganz ehrlich sein: das fällt in einer relativ unvoreingenommenen therapeutischen Beziehung als Mitmensch auf Zeit natürlich wesentlich leichter, als in den emotionalen Fallstricken einer nicht mehr ganz frischen Partnerschaft mit gemeinsamer Vorgeschichte.

Aber: Oft reicht es schon, wenn einer der beiden Partner an seinen Themen arbeitet und lernst, die wahren Beziehungsbedürfnisse beider zu entschlüsseln und die Beziehung so zu gestalten, dass diese beachtet werden. So wird dem Partner ein Rollenvorbild für den Umgang miteinander vorgelebt, an dem er selbst wachsen und sich orientieren kann.

Das verändert nicht nur die Beziehung zum Partner sondern auch zu uns selbst auf eine Weise, die von tiefer Wertschätzung und (Selbst)Empathie getragen wird.

Wie ist das bei dir? Kommt dir irgendwas davon bekannt vor? Bei dir selbst oder einem dir wichtigen Menschen?

Hör Dir hier die dazugehörige Podcast-Folge an:


*Konzept sozialer Entfremdung: vgl. Thomas Weil, Martina Erfurt-Weil (Selbstwirksamkeit und Performance – ROMPC®-Kompendium Theorie- und Trainingshandbuch, MEW Medienedition Weil e.K., Ausgabe 2010)

Intensiv-Coaching

Den meisten Menschen fällt es schwer, nach der Beziehung mit einem Narzissten wieder auf die Beine zu kommen. Im Intensiv-Coaching begleite ich dich durch einen mehrstufigen Wachstumsprozess, der es dir ermöglicht, das Erlebte so zu verarbeiten, dass der Schmerz endet und du dein Leben wieder genießen kannst.

>