Heute schon perfektet? Nein? Schäm dich! Machst du etwa gar nicht mit bei unserem gesellschaftlich verordneten Selbstoptimierungswahn? Unsere gesamte Wirtschaftskultur lebt davon, dass wir uns unzureichend fühlen, damit wir uns anstrengen, an uns und für andere arbeiten und vor allem Dinge kaufen. Viele Dinge!
Dazu zählt auch die beliebte Illusion, die ganze Welt sei ausschließlich unser Spiegel (an sich schon recht narzisstisch, oder?) und wenn dort etwas schief läuft und mir das was ausmacht, haben wir da offenbar noch ein Thema zu lösen.
So bleiben wir auch lieber in dysfunktionalen Beziehungen stecken und arbeiten an uns selbst, anstatt die Beine in die Hand zu nehmen und das Weite zu suchen. Kommt dir das bekannt vor? Erinnert dich das an den Artikel von letzter Woche? Wenn nicht, lies ihn nochmal: Warum wir uns nicht von sinkenden Schiffen retten
Wie die Gesellschaft von unserem Gefühl der Unzulänglichkeit profitiert, ist klar. Aber wusstest du auch, dass der damit einhergehende Selbstoptimierungswahn auch der Abwehr unserer eigenen Angst dient? Lass mich dir erklären, wie das zusammenhängt.
Selbstoptimierungswahn - Was ist das?
Wenn wir die Unkontrollierbarkeit des Lebens zu spüren bekommen, empfinden wir tiefe Ohnmacht. Ein Gefühl, dass wir kaum aushalten können. Intensive Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit sind traumatisch, denn wenn wir einer Situation ohnmächtig ausgeliefert sind, ist das für unser Gehirn direkt mit unserem Überleben verknüpft.
Umgekehrt gibt es kein Traum ohne Ohnmachtsgefühle. Auch kein Bindungstrauma. Denn für Traumaerleben ist eine der Grundvoraussetzungen, dass wir uns nicht in der Lage fühlen, die Situation mit unseren Mitteln zu bewältigen. Da ist es nur verständlich, dass wir alles tun, um dieses Gefühl beiseite zu schieben.
Unter anderem deshalb ist es auch so beliebt zu glauben, dass alles in unserem Leben seine Ursache irgendwo in uns hätte, sprich die ganze Welt unser Spiegel sei. Unsere Beziehungen natürlich ganz besonders.
Sicher ist da ein bisschen was dran. Wenn du wiederholt in toxische Beziehungen gerätst, dir immer wieder denselben Typus Partner suchst oder deine Partnerschaften erkennbaren Mustern folgen. Doch daraus zu schlussfolgern, alles sei nur unser Spiegel wäre ein bisschen übertrieben.
Nebenbei spricht es auch jedem und allem anderen in unserem Leben ab, eine eigenständige Entität zu sein, die auch unabhängig von uns existiert. Hört sich sehr mächtig und bedeutungsvoll an, ist aber in der Realität eher kritisch zu betrachten.
Selbstoptimierungswahn als psychische Abwehr von Ohnmachtsgefühlen
Denn auch wenn viele glauben, die Verantwortung in einer Partnerschaft würde 50:50 lauten, wirst du schnell merken, wie viel deine 50% ausrichten, wenn der andere zu 0% mitmacht. Da kannst du auch 100% Verantwortung übernehmen, das Ergebnis bleibt das Gleiche. Denn egal, was du mit Null multiplizierst, das Ergebnis bleibt Null.
Dennoch hat es Charme, dem Selbstoptimierungswahn zu verfallen und ich meine das durchaus respektvoll. Glaube nicht, ich hätte da nicht auch schon mitgemacht.
Wenn ich nämlich glaube, ich sei für den ganzen Mist in meinem Leben verantwortlich, fühle ich mich zwar schlecht, minderwertig und oft auch schuldig, aber zumindest nähre ich die Illusion, ich könnte was an meiner Misere ändern. Dazu muss ich dann nur an mir arbeite, bis der Arzt kommt. Manchmal wortwörtlich.
ZACK!!!: Schon fühle ich mich weniger ohnmächtig.
Ich muss schließlich nur hart genug an mir arbeiten, dann wird das schon. Und plötzlich stecke ich mittendrin, im Selbstoptimierungswahn.
Verletztes Bedürfnis nach Einflussnahme
Das Gefühl, Einfluss auf die Geschehnisse in unserem Leben nehmen zu können, ist elementarer Bestandteil geistigen Wohlbefindens. Es gehört beispielsweise neben der Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit unseres Erlebens, zu den sozial-medizinischen Faktoren für Gesundheit im Salutogenesekonzept nach Aaron Antonovsky.
Verletzende Erfahrungen können dazu führen, dass wir starke Ohnmachtsgefühle empfinden. Wir fühlen uns der Willkür des Lebens schutzlos ausgeliefert.
Besonders wenn diese Ohnmachtsgefühle durch das Verhalten anderer Menschen uns gegenüber ausgelöst werden, die eigentlich auf unserer Seite stehen, für uns da sein und uns notfalls gegen andere verteidigen sollten, anstatt uns selbst zu verletzen.
Doppelt traumatisch: Wenn uns nahestehende Menschen verletzen
Geraten wir in kritischen emotionalen Stress, geht unser natürlicher Fluchtweg zu den uns am meisten nahestehenden Personen. In der Kindheit sind das natürlich die Eltern, später der Partner oder die Ehefrau. Gehen die Verletzungen nun aber genau von diesen Menschen aus, so ist das für uns doppelt traumatisch.
Zum einen durch das verletzende Verhalten selbst, zum anderen dadurch, dass unser natürlicher Fluchtweg verbaut ist und wir von denen WEG fliehen müssen, zu denen wir normalerweise HIN fliehen würden. Doch eben dieses WEGFLIEHEN von unseren wichtigsten Bezugspersonen ist schwierig und wider unsere Natur.
Da ist es oft einfacher, uns selbst die Verantwortung für deren Verhalten zuzusprechen und alles zu unternehmen, damit diese Beziehungen funktionieren. Koste es, was es wolle.
Die Erfüllung unserer Beziehungsbedürfnisse ist essenziell für uns. Werden sie nicht angemessen durch unser Umfeld gestillt, finden wir selbst Wege, die Lücke zu füllen.
Paradox: Wenn wir versuchen, uns unsere Beziehungsbedürfnisse selbst zu erfüllen
Das Problem deutet sich bereits im Namen an. Es sind Beziehungs-Bedürfnisse. Sie setzen ein Gegenüber voraus. Sich Beziehungsbedürfnisse selbst erfüllen zu wollen, ist ein Widerspruch in sich.
Wenn wir nicht das bekommen, was wir eigentlich von anderen brauchen, sichern wir so wenigstens unser emotionales Überleben. In der Not frisst der Teufel Fliegen.
So versuchen wir unangreifbar zu werden, indem wir uns einreden, niemanden zu brauchen. Wir strengen uns an, immer stark zu sein und alles alleine geregelt zu bekommen.
Oder wir bemühen uns, es anderen auf jede erdenkliche Art recht zu machen. Werden für unsere Mitmenschen so bequem wie möglich, um uns den weiteren Zustrom ihrer Zuwendung zu sichern.
Die Grundlage des Selbstoptimierungswahns liegt hauptsächlich in einem verletzten Bedürfnis nach Einflussnahme, dass wir dadurch zu kompensieren versuchen, dass wir auch bei völliger Aussichtslosigkeit manchmal noch die maligne Hoffnung nähren, dass wenn wir uns nur genug ändern und anstrengen, die Beziehung funktionieren wird oder es uns zumindest nichts mehr ausmacht, wenn sie es nicht tut.
Übrigens leider auch oft im Rahmen typischen co-narzisstischen Verhaltens im Rahmen einer toxischen Beziehung.
>>> Co-Narzissmus: Über die Sucht, gebraucht zu werden
Höre dir hier die dazu passende Podcast-Folge über unser Bedürfnis nach Einflussnahme an:
Ohnmachtsgefühle sind unkontrollierbarer Stress
Ohnmachtsgefühle erleben wir als unkontrollierbaren Stress und der ist für unser Säugetiergehirn eine heftige Sache. Der Neurobiologe Gerald Hüther*1 erklärt dazu, dass unkontrollierbarer Stress zu Abschaltprozessen im limbischen System des Gehirns führt.
Bei unkontrollierbarem Stress erleben wir Ohnmachtsgefühle und reagieren neuronal mit dem Zustand des Freezing.
Freezing ist dem Totstellreflex von Beutetieren ähnlich. Eine der drei möglichen Reaktionen auf Gefahrensituationen:
- Kampf
- Flucht
- Totstellreflex (Freezing)
Dadurch geraten die Datenverarbeitungsprozesse in unserem Gehirn ins Stocken. Gleichzeitig kommt es durch einen Datenrückstau im Nervensystem dazu, dass die Amygdala in einem dauerhaften latenten Alarmzustand bleibt.
Der Datenmüll kann nicht mehr abtransportiert werden.
In der Folge gehen wir oft aus dem Kontakt. Sowohl mit uns selbst als auch mit unseren Mitmenschen. Wir reagieren mit Kontaktvermeidungsstrategien. Sie sollen uns davor schützen, in Zukunft erneut ähnlichen Verletzungen ausgeliefert zu sein. Sie nähren die Illusion der Kontrolle in einer kaum kontrollierbaren Welt.
Falls du dein Wissen darüber auffrischen möchtest, hier geht's zum Artikel über soziale Entfremdung.
Selbstoptimierungswahn als Abwehr gegen die Ohnmacht
Die Ursache für alle Geschehnisse unseres Lebens in uns selbst zu vermuten, mindert vordergründig unsere Ohnmachtsgefühle. Es führt aber gleichzeitig auch dazu, dass wir in unerträglichen Situationen verweilen. Wir gehen nicht, wenn es Zeit wäre, zu gehen. Wir wehren uns nicht, wenn es angebracht wäre, uns zu wehren.
Schließlich liegt es ja an uns, nicht wahr?!
- „Wenn ich mich vollständig optimiert und meine alten Wunden geheilt habe, funktioniert meine Partnerschaft endlich.
- Oder es stört mich zumindest nicht mehr, dass sie es nicht tut.
- Denn dass es mir etwas ausmacht, zeigt schließlich nur, dass es da noch ein Thema gibt, das ich lösen und aufarbeiten muss.“
So werden wir zu Kerkermeistern unseres selbst geschaffenen Gefängnisses. Wir verlieren den Kontakt zur Realität und schneiden uns von unseren wahren Gefühlen ab.
Dann lassen wir uns Verhaltensweisen gefallen und ertragen Umstände, die sich die meisten Masochisten nicht bieten lassen würden.
So wird alles, was in unserem Leben nicht funktioniert, zum Beweis, dass mit uns etwas nicht stimmt.
Wenn wir uns so verhalten, ähneln wir stark dem Protagonisten in Paul Watzlawicks berühmter Anekdote Die Geschichte mit dem Hammer*2 über den der Autor feststellt:
Wer nur einen Hammer hat, für den wird die ganze Welt zum Nagel.
Selbstoptimierung: Ja, aber bitte mit Augenmaß
Wie sieht die Lösung also aus?
Einfach immer…
– noch ein Seminar,
– noch ein hilfreiches Buch,
– noch ein paar Bahnen im Fruchtwassersimulator drehen,
… irgendwann wird’s schon besser werden.
Nicht ganz! Der Wunsch, an uns selbst zu arbeiten um eine noch bessere Version unserer selbst zu werden, ist tief in uns verankert. Es ist der Grund, warum wir heute nicht mehr auf Bäumen sitzen und uns gegenseitig die Läuse aus dem Fell zupfen (es sei denn als Hobby oder Fetisch).
Man könnte es als evolutionären Trieb zur Weiterentwicklung bezeichnen.
Ich bitte nur darum: Lasst es uns mit Augenmaß tun und von unserem gesunden Menschenverstand Gebrauch machen. Selbstoptimierung ist eine super Sache. Sie kann uns glücklich und unser Leben leichter machen.
Selbstoptimierungswahn gehört hingegen zu den Lösungsversuchen, die ich persönlich zu den Wegen IN die Katastrophe zähle, nicht zu den Wegen daraus, obwohl viele von uns es dafür halten. Denn bei weitem nicht jeder bescheidende Umstand in unserem Leben hat seine Ursache hauptsächlich in uns selbst.
Es gibt bei jeden Erklärungsmodell einen Punkt, da wirkt das Beharren auf einem einzigen Konzept eher lähmend, als dass es unserem Leben etwas von Wert hinzufügt. Menschliches Leben ist zu komplex und vielschichtig, um mit einem einzigen Konzept alles erklären zu wollen.
Was mich angeht, so kann ein gutes Konzept einen gewissen Teil unseres Lebens brauchbar abbilden, während es in anderen Bereichen eher ungeeignet ist. Warum machen wir es uns dann mit unserer typischen Entweder-oder-Mentalität so verdammt schwer?
Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass die Wirklichkeit groß und großartig genug ist, um mit „sowohl als auch“ oder „manchmal so, manchmal so“ viel besser beschrieben zu sein?
Klingt paradox? Stimmt, ist es auch.
C. G. Jung*3 beschreibt es ganz treffend:
„Die Paradoxie gehört sonderbarerweise zum höchsten geistigen Gut; die Eindeutigkeit aber ist ein Zeichen der Schwäche. […] , denn nur das Paradoxe vermag die Fülle des Lebens annähernd zu fassen, die Eindeutigkeit und das Widerspruchslose aber sind einseitig und daher ungeeignet, das Unerfassliche auszudrücken.“
Und ich sehe beim besten Willen keinen Anlass dazu, ihm da zu widersprechen.
Die Lösung ist einfach
Die Lösung ist einfach, aber schwer umzusetzen. Wenn all deine Selbstoptimierungsversuche und Anpassungs-verrenkungen deine Beziehung bisher nicht zum Laufen gebracht haben, werden auch alle weitere es nicht tun.
Das ist die Kröte, die es zu schlucken gilt und die kann für manche verdammt groß sein. Mehr vom Selben wird dich nicht weiterbringen. Diesen Kampf kannst du nur gewinnen, indem du ihn aufgibst.
Dazu ist es nötig, dass wir uns unserer Angst vor dem Unkontrollierbaren (auch in Beziehungen) stellen und unseren inneren Dämonen direkt ins Gesicht sehen, anstatt weiterhin vergebens zu versuchen, sie durch unser ganzes Gewusel auf Abstand zu halten.
Der Sieg über unsere Ängste ist ein Sieg des Lassens, nicht des Tuns. Ein Weg des Annehmens, nicht des Kampfes.
Doch niemand muss das alleine tun. Es gibt heute wunderbar effektive Coaching- und Therapiemethoden, die uns helfen, unsere inneren Dämonen auf ein gesundes Maß zurecht zu schrumpfen, sodass wir im Alltag gelassen mit ihnen umgehen können, wenn sie sich einmal zeigen sollten.
Hierzu zählen auch verschiedene Techniken aus dem Bereich des EMDR, ROMPC und weiteren ganzheitlichen Ansätzen, die uns helfen, inneren Stress kontrollierbar zu machen und konstruktivere Wege zu finden, mit unseren unerfüllten Beziehungsbedürfnissen umzugehen.
Es gibt jede Menge Hilfe und echte Hoffnung auf Besserung. Doch dazu müssen wir aufhören, uns wie der Mann in dieser berühmten alten Geschichte zu verhalten:
Die Gaslaterne
-Verfasser unbekannt-
"Der Novemberabend war dunkel. Es stürmte und regnete unangenehm von der Seite. Ein Mann ging die spärlich beleuchtete Friedhofsgasse entlang, in der nur alle dreihundert Meter eine zu schwache Gaslaterne im Wind schaukelte. In einiger Entfernung sah er eine Gestalt unter der nächsten Laterne auf allen Vieren kriechen. Im Näherkommen entdeckte er einen anderen Mann, der dort etwas zu suchen schien. Er sprach ihn an:
"Hey da, kann ich dir helfen?" Darauf der Suchende "Ja gerne. Ich habe meine Geldbörse verloren."
"Okay, ich helfe dir suchen." sagte der Spaziergänger "Wo genau hast du sie denn verloren?"
"Dort drüben, etwa einhundertfünfzig Meter von hier, im dunklen Gebüsch, als ich mich nach der Kneipe von dem ganzen Bier erleichtert habe." antwortete der Suchende.
"Dort drüben? Aber warum suchst du dann hier unter der Laterne und nicht dort, wo du sie verloren hast?" wunderte sich der Helfende.
Darauf der Suchende: "Da hinten kann ich nichts sehen. Zu dunkel. Hier unter der Laterne ist Licht."
1 Gerald Hüther, „Biologie der Angst“, Göttingen 2005, 5. Auflage
*2 Paul Watzlawick, „Anleitung zum Unglücklichsein“, Piper Verlag GmbH, München 2003, 16. Auflage
*3 Carl Gustav Jung, „Gesammelte Werke“, Band 12, §18
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